Dein Freiheitsraum

Interview mit Mutlu Ergün

Mitglied beim antirassistischen Verein Phoenix e.V.

Zu deiner Person:

Mutlu Ergün studiert an der London School of Economics Soziologie und lebt derzeit als Autor, Pädagoge, Sozialforscher und Performer in Berlin. Seit 2001 ist Ergün Mitglied beim anti-rassistischen Verein Phoenix e.V. und dort als White-Awareness und Empowerment-Trainer tätig. Seit 2010 ist er auch Mitherausgeber für Edition insurrection notes des Unrast Verlags, wo Autor/innen of Color ihre Prosatexte veröffentlichen können. Er arbeitet seit 2004 als Redakteur beim Kultur- & Gesellschaftsmagazin freitext. Zusammen mit Noah Sow entwickelte er die anti-rassistische politische Satire „Edutainment-Attacke!“, für die er bisweilen in Deutschland performt. Im Mai 2010 erschien sein Buch „Kara Günlük – Die geheimen Tagebücher des Sesperado". Mutlu Ergün twittert unter @sesperado.

Mutlu Ergün

Habt ihr eine spezielle Zielgruppe, die ihr mit eurem Antirassismus Programm zu erreichen versucht?

Wir bieten zwei Trainings an, die Anti-Rassismus-Trainings für Weiße, auch White-Awareness-Trainings genannt und Empowerment-Trainings für People of Color. An diesen Trainings kann jede/r teilnehmen der/die möchte. Wir haben Trainings mit ganz unterschiedlichen Leuten gemacht, Lehrer/innen, Schüler/innen, Student/innen, Pfarrer/innen, Sozialarbeiter/innen, Geflüchteten etc. Die Trainings richten sich an die ganze Gesellschaft, natürlich ist es immer gut mit Multiplikator/innen Trainings zu machen, die möglicherweise auch an Schnittstellen sitzen, um strukturelle Veränderungen voranzubringen, aber wir sind alle ein Teil dieser Gesellschaft und wir können alle einen Beitrag dazu leisten, sie zu verändern. Wichtig zu verstehen ist, wir verstehen Weiß und People of Color nicht als biologisch-essentialistisch, sondern als politische Begriffe.

Ihr bezeichnet eure Antirassismus-Einheiten als Antirassismus-Training. Dies suggeriert, dass der Mensch erst gezielt darauf hin trainieren muss, nicht rassistisch zu sein, also von Natur aus rassistisch ist.
Reagieren eure Teilnehmer/innen häufiger verärgert auf diese Implikation?
Ist laut eurer Philosophie der Mensch tatsächlich grundsätzlich rassistisch, und wenn ja, wie begründet ihr diese Annahme?

Die Menschen kommen aus ganz unterschiedlichen Gründen zu den Trainings. Manche möchten sich mehr mit Thema auseinandersetzen, andere wollen aktiv werden, andere wollen mehr über ihre eigenen Rassismen erfahren. Ich glaube nicht, dass Menschen von Natur aus rassistisch sind, dass wir so eine Art „Rassismus-Gen“ in uns tragen. Rassismus ist ein angelerntes Verhalten, dass, wenn ein kritisches Bewusstsein darüber herrscht auch wieder verändert werden kann. Es hat also wenig mit der Intention, der Absicht zu tun rassistisch zu sein. Als männlich sozialisierte Person, habe ich vielleicht auch nicht die Absicht sexistisch zu sein, dennoch positioniert mich der Sexismus in der Gesellschaft in einer bestimmten Hierarchie ob mir dies gefällt oder nicht. Wenn ich dies verdränge hat der Sexismus viel mehr Macht über mich, als wenn ich versuche mich kritisch damit auseinanderzusetzen.

Ich weiß nicht, ob der Name des Phoenix-Trainings suggeriert, dass alle Teilnehmer_innen rassistisch sind. Grundsätzlich arbeiten wir nicht mit Ärger oder Schuld, dies sind oft Gefühle, die eine konstruktive Auseinandersetzung mit sich selbst oder einen Reflexionsprozess verhindern. Dennoch kann es vorkommen in einem Training, dass innere Widerstände gegen die Aussagen der Trainer/innen kommen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus ist nicht immer einfach. Es ist ein sehr emotionales Thema. Wir sagen dann immer gerne zu den Teilnehmer_innen, dass sie ihre Widerstände anlächeln sollen, denn sie möchten ihnen etwas über sich sagen.

Zu der Frage, ob „Mensch grundsätzlich rassistisch“ ist, hängt es zunächst einmal davon ab, wie Rassismus überhaupt definiert wird. Wir verstehen Rassismus nicht nur als Leute, die „Ausländer raus!“ brüllen oder als rassistisch motivierte Gewalt, dies sind nur Exzesse des Rassismus. Wir verstehen Rassismus als ein Alltagsphänomen, welches aus der Mitte der Gesellschaft kommt und bestimmten Menschen einen vereinfachteren Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen gibt auf Grund des sozialen Konstrukts der „Rasse“, oder ihrer kulturellen Herkunft. Anderen Leuten wird dieser Zugang erschwert. Der britische Sozialpsychologe Farhad Dalal schreibt in seinem Buch „Race, Colour and the Processes of Racialization“, dass eine nach „Rasse“ strukturierte Gesellschaft auch eine nach „Rasse“ strukturiere Psyche hervorbringt. Und eine nach „Rasse“ strukturierte Psyche reproduziert eine nach „Rasse“ strukturierte Gesellschaft. Dass die Gesellschaft in Deutschland nach „Rasse“ strukturiert ist, bilde ich mir ja nicht ein, das ist ja kein vages Gefühl von mir, sondern ist von sozialwissenschaftlicher Seite her bestätigt. Nach Dalal würde dies bedeuten, dass auch unsere Psyche, unser Wahrnehmen und daher auch unser Handeln rassifiziert ist. Dies macht ja auch in Bezug auf andere soziale Konstrukte, wie zum Beispiel Gender Sinn. Wir leben ja auch in einer nach Gender strukturierten Gesellschaft, natürlich könnte ich von mir behaupten, dass ich als männlich sozialisierter nicht von Sexismus geprägt bin, dass ich in einer Art sozialem Vakuum aufgewachsen bin, aber dadurch nehme ich mir eigentlich nur die Chance mich mit meinem eigenem Sexismus auseinanderzusetzen, Verantwortung zu übernehmen und mich weiter zu entwickeln.

Ihr verfolgt gewisse Strategien und Methoden in den Antirassismustrainings, um den Teilnehmer_innen ihre rassistisch geprägte Seite vor Augen zu führen. Wie sehen diese aus und wie funktionieren sie?

Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, es geht in unseren Trainings darum, in einem geschützten Raum (so weit dies möglich ist) sich mit der eigenen Prägung auseinander zu setzen. Wir verfolgen dabei einen biographischen, emotionalen und auch kognitiven Ansatz. Für uns ist es wichtig sich nicht nur auf der Kopfebene mit dem Thema Rassismus auseinanderzusetzen, sondern auch zu fühlen, was das System des Rassismus eigentlich aus uns, als Menschen macht. Wie das genau aussieht ist schwierig für Außenstehende zu beschreiben, es ist eine Art Prozess, es ist eine Einladung, die wir an die Teilnehmer_innen aussprechen, ohne Druck, ohne Zwang, denn die Freiheit sich zu entscheiden, ob wir uns damit auseinander setzen wollen oder nicht, ist wichtig. Und ob das funktioniert, kann davon abhängen, ob die Leute diese Einladung annehmen wollen oder nicht.

Arbeitet ihr stets mit den gleichen Methoden und Strategien, um euer angestrebtes Ziel zu erreichen?

Es braucht einen gewissen methodischen Rahmen, um diesen Prozess einzuleiten. Gleichzeitig ist jede Gruppe verschieden und braucht möglicherweise verschiedene Arten des Inputs, um sich auf den Prozess einzulassen. Die Prozesshaftigkeit des Trainings ist uns fast genauso wichtig, wie die Inhalte, die wir zu vermitteln versuchen. Entschleunigung ist eine wichtige Strategie. Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer alles höher, schneller, weiter gehen muss. Sich Zeit für sich selbst zu nehmen, innezuhalten und zu reflektieren ist eine grundlegende Eigenschaft in diesem Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst.

Wie sind die Reaktionen der Teilnehmer/innen? Und wie geht ihr mit ihnen um?

Die Reaktionen sind natürlich sehr unterschiedlich, einigen fällt es leichter sich kritisch mit sich selbst und dem Thema auseinanderzusetzen als anderen. Manchmal kann es Monate oder Jahre dauern, dass Leute auf uns zu kommen und sagen, jetzt haben wir verstanden, was ihr damals versucht habt im Training zu vermitteln. Und es gibt auch immer wieder Leute, die sich gar nicht mit dem Thema beschäftigen wollen. Natürlich freuen wir uns immer, wenn wir einen Anstoß zu einem kritischen Selbstreflexionsprozess geben können, gleichzeitig machen wir auch nicht unser Glück davon abhängig, ob die Teilnehmer_innen dies tun oder nicht. Wir sagen den Teilnehmer/innen immer gerne, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen können oder auch nicht, weil sie das wollen und nicht, weil sie uns nett oder doof finden. Wenn wir als Trainer/innen unser Glück davon abhängig machen würden, ob die Teilnehmer/innen dies tun oder nicht, wäre dies katastrophal für den Trainingsprozess, aber auch für die Trainer/innen persönlich.

Wo fängt für euch Rassismus an? Und was definiert ihr als Rassismus?

Wo Rassismus genau anfängt, lässt sich pauschal nicht so leicht sagen, das ist meist kontextabhängig. In Phoenix definieren wir Rassismus als Vorurteil (in Bezug auf das soziale Konstrukt „Rasse“) plus Macht. Das ist eine sehr vereinfachte Definition, hilft aber in der antirassistischen Arbeit enorm, zunächst einmal zu erklären, wie Rassismus in der Gesellschaft arbeitet und welche Funktionen er hat. Die Machtdimension in dieser Definition ist sehr wichtig. Wenn wir Sexismus als Vorurteil (in Bezug auf das soziale Konstrukt Gender) plus Macht definieren würden, würde dies bedeuten, dass als Frauen sozialisierte Leute noch so viel behaupten können, dass männlich sozialisierte Leute schlecht im Multitasking sind, sie haben nicht die Macht, daher Männern den Zugang zu Managerpositionen zu erschweren. Was wir momentan in der deutschen Gesellschaft sehen, ist ja eher das Gegenteil, das in Führungspositionen häufig Weiße Männer sind. Es ist also kein Sexismus, wenn als Frauen sozialisierte Leute solche Aussagen über die vermeintliche Unterlegenheit von als Männern sozialisierte Leute machen. Wichtig ist eben die Machtposition inne zu haben, (meist unbewusste) Vorstellungen der eigenen Überlegenheit in eine Vormachtstellung zu übersetzen, historisch gewachsene gesellschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten, von ihnen zu profitieren – oder sie auch möglicherweise zu verändern. Dies bedeutet nicht, dass People of Color frei von Rassismus sind, wir unterscheiden in diesem Falle allerdings zwischen rassistischer Diskriminierung und Rassismus. Ich als alevitisch-anatolischer Deutscher kann Weiße Deutsche vielleicht rassistisch diskriminieren, aber ich habe weder persönlich noch kollektiv, historisch oder global die Macht, Weißen Leuten den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung, Arbeit oder Wohnungen zu verweigern.

Müsst auch Ihr als Antirassismustrainer_innen euch immer noch eure rassistische Seite abtrainieren? Ist es ein lebenslanger Prozess? Oder seid ihr mittlerweile Rassismusfrei?“

Wer von sich behauptet frei von Rassismus zu sein, hat eigentlich verloren. Sozialisierung, Subjektwerdung ist ein lebenslanger Prozess, ist eine lebenslange Suche. Wir werden mit immer neueren und subtileren rassifizierten Bildern bombardiert und geprägt. Dies ist eine Auseinandersetzung, die nie zu Ende geht. Als Antirassismustrainer_in ist es besonders wichtig, ein kritisches Bewusstsein über die eigene Rassifizierung zu entwickeln. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich getraut habe, Trainings zu machen, weil ich mich gefragt habe, wie kann ich anderen Leuten erklären, was Rassismus ist und welche Folgen er für uns hat, wenn ich dies für mich selber noch nicht genau verstanden habe. Die Prozesshaftigkeit in Phoenix ist sehr wichtig, wir lernen als Trainer/innen jeden Tag dazu, das kritische Hinterfragen der eigenen Positionierung im rassistischen System hört für uns Trainer/innen natürlich nicht auf.

Glaubt ihr an eine Zukunft, in der Rassismus keine Rolle mehr spielt? Und wenn dies der Fall sein sollte, was müsste alles getan werden, um das ersehnte Ziel zu erreichen?

Ich glaube, Utopien sind in der Empowerment-Arbeit sehr wichtig. Warum sollten wir uns für eine Kultur der Verständigung, uns für eine Gesellschaft einsetzen, in der „Rasse“ und auch andere soziale Konstrukte keine Rolle mehr spielen, wenn wir nicht an so eine Zukunft glauben. Allerdings wird die Gesellschaft und Welt nicht von heute auf morgen frei von Rassismus werden. Es hat 500 Jahre gedauert, für das System des Rassismus einen Weg in unsere Köpfe und Herzen zu finden, vielleicht wird es weitere 500 Jahre dauern, dies auch wieder da heraus zu bekommen. Dies kann aber über verschiedene Wege erreicht werden, der strukturelle Ansatz spielt darin eine genauso wichtige Rolle wie der persönliche Ansatz. Strukturell kann über Gesetze, möglicherweise auch Quotenregelungen der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen garantiert werden, egal zu welcher „Rasse“ die Leute vermeintlich gehören. Das Bildungssystem spielt hier drinnen natürlich auch eine sehr wichtige Rolle, wie wird Verschiedenheit im Unterricht wahrgenommen und verhandelt. Die Medien und die Reproduktion von Bildern und Sprache spielen eine enorm wichtige Rolle. Judith Butler hat geschrieben, dass jene Leute, die sich medial, aber auch politisch selbst repräsentieren können, eher als Menschen wahrgenommen werden und nicht nur als Konstrukte. Und wichtig ist natürlich auch die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst, gesellschaftliche Strukturen sind nichts abstraktes, das sind wir, das sind Menschen, die jeden Tag Entscheidungen treffen Strukturen zu reproduzieren, sie aufrecht zu erhalten, oder sie zu hinterfragen und sie möglicherweise zu verändern. Der Schlüssel zu dieser Zukunft können wir selbst sein.

Rassismus ist ein System, welches unsere Menschlichkeit in unterschiedlichen Formen verhindert. Uns geht es darum einen Prozess zu beginnen, in dem wir gemeinsam aushandeln, was Menschlichkeit bedeutet. Dafür müssen wir allerdings erst einmal anfangen Machthierarchien zu dekonstruieren, denn ein Dialog funktioniert nur auf Augenhöhe.

Du bist nicht nur Mitglied bei Phoenix, sondern bist ebenfalls als Autor tätig. Wovon handelt Dein Buch „Kara Günlük – Die geheimen Tagebücher des Sesperado”?

„Kara Günlük – Die geheimen Tagebücher des Sesperado“ ist ein semi-biographischer Roman, der sich auf eine humorvolle und ironische Art und Weise mit dem Thema des Alltagsrassismus in Deutschland auseinandersetzt – so in der Art steht es zumindest auf dem Buchrückentext. Auf einer Ebene ist es eine Liebesgeschichte, auf einer anderen Ebene werden in dem Buch alltagsrassistische Situationen geschildert, welche von den Protagonist/innen auf kreative Art und Weise gelöst werden. Auf einer dritten Ebene habe ich versucht, kritische sozialwissenschaftliche Inhalte in einer einfachen, für jede_n zugängliche Sprache zu erklären. Dabei schneide ich viele Themen an, die auch in meiner Phoenix-Arbeit wichtig sind, wie zum Beispiel kritisches Weißsein, Kolonialismus und Orientalismus, anti-muslimischer Rassismus etc. (Respektvoller) Humor kann eine sehr wichtige Strategie sein, Menschen für dieses Thema zu öffnen – mir ist aber auch wichtig, das dies nicht meine einzige Strategie ist. Daher ist mir meine Arbeit in Phoenix und meine Forschung zum Thema Rassifizierung und Empowerment in Deutschland sehr wichtig.


Rahel Freist-HeldDas Interview hat Rahel Freist-Held (Jg. 1994), Abiturientin des Gymnasiums Cäcilienschule, Oldenburg, geführt. Rahel ist seit August 2012 in Johannesburg, Südafrika, und arbeitet als Weltwärts-Freiwillige der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in dem Projekt Drama for Life (www.dramaforlife.co.za)  an der University of the Witwatersrand.

Kontakt: Rahel.Freist-Held@wits.ac.za