Oldenburgisches Staatstheater

Heimat, Fremde, Glaube

Juli 2013

Das Oldenburgische Staatstheater begibt sich für das Projekt „Freiheitsraum Reformation“ auf die Suche nach Auswanderung, Familienforschung und religiöser Identität.

Vor drei Monaten fiel der Startschuss, in 9 Monaten ist Premiere: Ein Jahr lang beschäftigt sich Regisseur und Autor Jan Neumann bei seiner Stückentwicklung am Oldenburgischen Staatstheater im Rahmen des Projekts „Freiheitsraum Reformation“ quer durch die Jahrhunderte mit der Amerikaauswanderung von Menschen aus der Region rund um Oldenburg. Sein Interesse gilt dabei weniger der historischen Dimension des gewaltigen gesellschaftlichen Phänomens, sondern dessen unmittelbaren Auswirkungen auf das Zusammen-Leben der Einen und Auseinander-Leben der Anderen. Gehen Menschen alleine oder im Kollektiv ins Exil? Suchen wir in der Fremde Vertrautheit? Wie funktioniert Familienzusammenhalt, wenn ein ganzes Meer zwischen einem liegt? Und wie schnell verändern sich Sehnsüchte und kulturelle Identitäten?

Eine besondere Rolle spielen wird bei Jan Neumanns Projekt die Frage von Religion und Gruppenzusammenhalt: Im Zuge der Reformation gründeten etliche Glaubensflüchtlinge, die vom 16.-18. Jhd. aus ihrer Heimat vertrieben wurden, eigene Siedlungen auf dem neuen Kontinent. Eine der vier Kleinstädte namens „Oldenburg“, die in Amerika von Deutschen gegründet wurden, heißt deshalb das „village of spires“, das Dorf der Kirchtürmer. Auch heute noch wird auf der Homepage dieses Dorfs mit weniger als tausend Bewohnern stolz das religiöse Selbstverständnis der Gemeinschaft betont. Kann uns dieses historische Migrationsphänomen etwas erzählen – auch über das heutige Nebeneinander religiöser Gemeinschaften in Oldenburg?

Eine Stückentwicklung auf ihrem Weg

Jan Neumann, der zuletzt unter anderem am Schauspielhaus Bochum, am Schauspiel Stuttgart Schauspiel Köln und Staatsschauspiel Dresden inszenierte, entwickelt seine Stückprojekte nach Themen oder Stoffen immer gemeinsam mit seinen Schauspielern und seinem Team.

Zusammen mit den Schauspielern, der Ausstattung und der Dramaturgie wird in diesem Sinne breit und intensiv geforscht: Briefwechsel, Tagebücher, Passagierlisten und Kirchenbücher werden durchforstet, das Bremer Auswanderungsmuseum wurde besichtigt und Assoziationen gesammelt. In einer ersten gemeinsamen Recherchephase im März dieses Jahres hat das Produktionsteam Spezialisten in ihrem jeweiligen Fachgebiet getroffen und interviewt: Den Leiter des Flüchtlingcafé des Oldenburger Vereins IBIS e.V. (Interkulturelle Arbeitsstelle für Forschung, Dokumentation, Bildung und Beratung), einen Pfarrer der Seemannsmission aus Bremerhaven, Spezialisten für Familienforschung und nicht zuletzt natürlich wissenschaftliche Experten der Universität Oldenburg.

Seit der ersten Präsentation des Recherchestands im April in der Exerzierhalle des Staatstheaters wird die theatrale Forschung individuell ausgeweitet. Nach den fachlichen Experten werden die Experten des Alltags befragt: Menschen aus der Oldenburger Region, die persönliche Geschichten über Auswanderung, Sehnsüchte und Glaube an eine andere Zukunft erzählen können.

Und Geschichten gibt es viele: Da gibt es drei Brüder, die 1920 zusammen nach Amerika auswanderten, alle drei deutsche Frauen heirateten, und ihr Geld als Bäcker deutscher Spezialitäten verdienten.

Da gibt es einen 86-Jährigen, dessen Eltern mit ihm auswanderten, den es aber sehnsuchtsvoll wieder zurück nach Deutschland zog. Da gibt es den Chemielaboranten, der bei seiner Landung in Amerika nur 18 Dollar in der Tasche hatte und den Oldenburger, der mehrmals pro Jahr zu seinen Verwandten in der dritten Generation in die USA reist und auf dem Friedhof in „Little Oldenburg“ nach vertrauten Namen sucht.

Die Geschichten all dieser Menschen werden in Einzelgesprächen gesammelt und dienen als Basis für den nächsten Schritt der Stückentwicklung, der Improvisationsphase, die nach der Sommerpause des Staatstheaters beginnt. Es gibt viel zu entdecken: Religiosität als Geschichte und Gegenwart, als Verbindendes und Trennendes, als Glaubensrichtung und Alltagspraxis – in Gegenständen, Geschichten, Menschen. Die zweite Halbzeit der Uraufführungsentwicklung wartet!

Lene Grösch (Produktionsdramaturgin Oldenburgisches Staatstheater)