Jahresthema 2016

Spurensuche in der Region

Für die Betrachter des 21. Jahrhunderts wirkt „die Reformation“ häufig wie eine relativ kompakte, in einigen wenigen Namen, Orten und Daten zusammenfassbare Ereigniskette. Aus fast 500jähriger Rückschau entsteht das Bild einer schnellen Abfolge zentraler religionspolitischer Momente, als deren Konsequenz ein Teil der Bevölkerung zu Protestanten wurde, während der andere Teil katholisch blieb. Was dieses Bild nicht zeigt, sind die zwar langsamen, aber oft nicht weniger turbulenten Veränderungen, die sich  in den kleinen Gemeinden, in den Städten und Dörfern des 16. und 17. Jahrhunderts abspielten. Die Reformation war eine facettenreiche Bewegung, in der eine Vielzahl von Menschen sich mit schwerwiegenden Glaubenskonflikten konfrontiert sah, die sie vor die Aufgabe stellten, ganz neue religiöse Identitäten auszubilden, ganz neue Verständnisse von sich selbst und von der Welt, in der sie lebten.

Bei der Herausbildung dieser Identitäten spielten die theologischen Impulse der Reformatoren und die gesellschaftspolitischen Ereignisse der Zeit eine ebenso wichtige Rolle wie die Klärung vieler, nun neu zu stellender Fragen, die das alltägliche Leben und Glauben der Menschen betrafen, und die fern der großen politischen Spektakel in den Gemeinden ausgehandelt werden mussten. Wie sah die eigene Religion aus, und was bedeutete sie für den Alltag? Wie beeinflusste sie nicht nur den täglichen Umgang mit Geburt, Eheschließung, Tod und Gottesdienst, sondern beispielsweise auch die Kleidung, Ernährung oder Kindererziehung? Diese langwierigen Aushandlungsprozesse gruben ihre Spuren tief in die Stadt- und Dorfbilder ein. Sie prägten Friedhöfe, Kirchenräume, Straßenzüge und Wohnstuben. Vielfach sind diese Spuren heute noch erhalten, formen unmerklich unser eigenes Bild unserer Umgebung mit. Manche sind kaum zu übersehen: Die  St. Georgs-Kirche im ostfriesischen Weener, ursprünglich aus dem 13. Jahrhundert, verfügt seit dem 17. Jahrhundert statt eines Altars über einen Abendmahlstisch, zur gleichen Zeit wurde eine Kanzel als zentraler Blickpunkt des Kirchenschiffs angebracht. Die große Wanduhr aus dem Jahr 1626,  hoch über allen Köpfen befestigt, erinnert mit ihrer Inschrift „O Mensch Gedenk der Ure des Doods“ die Gläubigen beständig an die Vergänglichkeit ihrer irdischen Existenz. Nicht nur evangelisch-reformierte Theologie ist hier in Holz und Stein repräsentiert, das Bauwerk erzählt auch von der veränderten Gottesdienstpraxis, die die Reformation mit sich gebracht hat, von neuen Ritualen, Liedern, Bewegungen, Besinnungsimpulsen und einer veränderten Richtung des Blicks. Anderswo sind es nur kleine Eingriffe, die vorgenommen wurden, um die Umgebung dem neuen Glauben anzupassen und ähnliche Veränderungen möglich zu machen: So finden sich etwa in der kleinen, ebenfalls evangelisch-reformierten Kirche von Vellage in Ostfriesland unauffällige Haken, die in eine Seitenwand des Kirchenschiffes eingelassen wurden.  An diesen Haken wurden nach der Reformation der Gemeinde schlichte Tücher befestigt, die ein aus vorreformatorischer Zeit stammendes Wandfresko der Passion Christi verdecken sollten. Eine einfache Lösung, die viel über die Auseinandersetzung der Vellager Gemeinde mit den Anforderungen des neuen Glaubens erzählt.

2016 begibt das Kooperationsprojekt „Freiheitsraum Reformation“ sich auf „Spurensuche in der Region“: Welche materiellen Manifestationen der Reformation sind in der Nordwestregion erhalten geblieben? Wie haben sich Kirchenräume, Friedhöfe, Wohnstuben, Gesangbücher, Gemälde, Kleidung, Sagen und Geschichten etc. verändert? Was passierte mit Gegenständen oder Gebäudeteilen, die im Rahmen reformatorischer Bewegungen abgelehnt wurden, z.B. mit Heiligenfiguren, Altären, bemalten Möbelstücken oder Reliquienschreinen? Was wurde aus religiös besetzten Alltagsgegenständen? Welche Geschichten können diese Gegenstände heute über Reformation erzählen? Welche Bedeutung haben die materiellen Veränderungen für die religiösen und historischen Identitäten und Selbstverständnisse der Städte und Gemeinden, aber auch z.B. einzelner Familien? 2016 möchte „Freiheitsraum Reformation“ die materiellen Zeugen der Reformation in der Nordwestregion zum Sprechen bringen und mithilfe ihrer Geschichten neue Lichter auf ein bewegtes Zeitalter werfen.